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Sim-Jü

„Sim-Jü gehört zur DNA von Werne“

Rainer Schulz

Mit Fürsorge und Fachwissen hat sich Rainer Schulz in Schaustellerkreisen landesweit einen Namen gemacht. Wie denkt er über Sim-Jü, das ihm wie kein anderes Volksfest am Herzen liegt? Im Interview spricht Rainer Schulz über prägende Erlebnisse seiner Kindheit und erklärt, wie Werne die alten Freimarktstraditionen bewahrt.

Herr Schulz, woher stammt Ihre Leidenschaft für Sim-Jü und das sogenannte fahrende Volk?
Ich wohne seit meiner Geburt in der Nähe des Kirmesplatzes, praktisch um die Ecke herum liegt der Hagen. Auf uns Kinder haben die Schausteller von Anfang an eine besondere Faszination ausgeübt. Wenn sie mit ihren bunten Wagen kamen, stieg das Kirmesfieber. Damals sind meine Mitschüler und ich in den Tagen vor Sim-Jü ständig zum Hagen gelaufen, um nachzuschauen, ob wieder neue Wagen angekommen waren Bei deren Anblick fragten wir uns: Was mag da wohl drin sein? Irgendwann erkannten wir bestimmte Fahrzeuge auf Anhieb. Zum Beispiel kam zu Sim-Jü und zur Maikirmes immer Wendlers Raupenbahn. Deren Packwagen hatte eine sogenannte Seitenladung, was bedeutet, dass an dem Wagen rechts und links in speziellen Halterungen die Pfosten der Bahn hingen. Solch eine Seitenladung hatte aber auch der Wagen des Kinderkarussells von Müller & Kuhn. Und so rätselten wir oftmals, welcher Wagen zu wem gehörte.


Sim-Jü

Schnappschuss mit Eisbär

Familientreffen auf Sim-Jü: Rainer Schulz als Sechsjähriger (2. v. r.), gemeinsam mit seinem Bruder sowie Onkel, Tante und Cousine im Jahr 1950. „Das Vanilleeis habe ich übrigens im Gegensatz zu den anderen schon aufgeschleckt“, kommentiert Schulz heute das Foto. 

 

Sim-Jü war für Sie also vor allem mit Spannung verbunden?
Ja. Hinzu kommt, dass schon mein Vater einen Hang zum reisenden Volk hatte. Während seiner Studienzeit in Holzminden lernte er einen Schaustellersohn kennen, dessen Familie nach dem Krieg mit dem bewussten Kinderkarussell jahrelang auf Sim-Jü stand. Durch diese Bekanntschaft gelangte ich zum ersten Mal in einen Schausteller-Wohnwagen und erlebte, wie interessant so eine Wohnung auf Rädern ist. Als Kinder haben meine damaligen Kumpels und ich oftmals beim Aufbau mitgeholfen – zum Beispiel haben wir Unterlegklötze für die Karussellsohle herangeschleppt. Meistens bekamen wir dann ein paar Freikarten, die natürlich schnell abgefahren waren. Ich erinnere mich noch daran, dass ich als kleiner Junge im Kinderkarussell einen schnittigen Mercedes bevorzugte, während andere von der Feuerwehr hin und weg waren.

Was ist Ihnen noch von den Kirmesausflügen mit Ihrem Vater in Erinnerung geblieben?
Wenn wir in den Fünfzigerjahren über Sim-Jü gingen, hatte mein Vater immer eine Rolle mit 10-Pfennig-Stücken, die er eigens für den Kirmesbummel besorgt hatte, in der Tasche. Eine Karussellfahrt kostete damals immerhin nur zwei Groschen. Auch Bettler, die am Wegesrand zur Kirmes saßen, kamen nie zu kurz. Mein Vater hatte mir beigebracht, ihnen stets etwas Geld in den Teller zu werfen. Diesen alten Brauch vergesse ich nie, er war eine Lehre fürs ganze Leben. Meine ersten ganz bestimmten Erinnerungen an Sim-Jü spielen im Jahr 1949.

Damals waren Sie gerade mal fünf.
Genau, und ich habe im Nachhinein dazu recherchiert. 1949 hatte die Familie Schmiemann an der Steinstraße noch ihre Kraftfahrzeughalle gegenüber des heutigen Salinenparcs, dort, wo jetzt K+K ist. Diese Halle hatte man damals ausgeräumt, mit Birken ausgeschlagen und als Gastraum eingerichtet. Es war kurz nach dem Krieg, Fleisch gab es noch nicht viel – im Gegensatz zu Fisch, den man in rauen Mengen an den nächstgelegenen Häfen bekam. Also verkauften die Betreiber vom Fischhaus Elbe aus Rünthe in dieser Kraftfahrzeughalle 1949 eine Alternative zur Kirmeswurst, nämlich Fischbockwurst. An die zu Sim-Jü ausgeschmückte Kraftfahrzeughalle habe ich mich immer erinnern können. Erst viel später, als ich mein erstes Buch über Sim-Jü schrieb, habe ich nach den Details recherchiert. In späteren Jahren habe ich durch meine Kontakte mit vielen Schaustellern die Kirmes mehr und mehr von hinter den Fronten der Geschäfte betrachten und erleben können. Irgendwann galt ich dann als Insider.


So war's vor mehr als 70 Jahren

Im Sim-Jü-Raum des Museums zeigt Rainer Schulz eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1949. „Bereits in der Aufbauwoche schien Werne aus den Fugen zu geraten, denn Sim-Jü sollte nach dem Willen der Stadtväter alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen“, sagt er. „Die Werner sollten nicht enttäuscht werden, denn im Laufe weniger Tage entstand zwischen Hagen und Bült eine Zeltstadt, wie sie Werne niemals zuvor gesehen hatte.“

Rainer Schulz
 

Wie nahmen Sie das Leben hinter den Kulissen wahr?
Dort sieht alles ganz anders aus als für das normale Kirmespublikum. Ich erlebte, wie hart das Leben von Schaustellern ist, die dennoch bis heute ihren Beruf für den schönsten der Welt halten. Kaum ein Schausteller möchte – selbst heute, wo die Schaustellerei ein sehr schwieriges Gewerbe geworden ist – mit einem „normalen“ Beruf tauschen.

Ist das Schaustellerleben denn wirklich so toll?
Ich kann diese Meinung nicht unterstreichen, es ist sicher eine subjektive Einstellung. Schausteller haben kein Familienleben wie wir anderen. Alles vollzieht sich bei permanenten Ortswechseln im Schweinsgalopp. Da bleibt kaum Zeit fürs Privatleben, das es früher im Winter ausreichend gab. Heute halten fast alle Weihnachtsmärkte, die meist bis einen Tag vor Heiligabend laufen – und wenn es dann soweit ist, sind die Reisenden meistens total erschöpft. Auch alle sonstigen christlichen Feiertage gehen an den Schaustellern im Husch-Husch-Verfahren vorbei. An Ostern und Pfingsten halten die meisten ja eine der vielen Kirmessen. Als Kind mag man – so wie ich damals – vom Schaustellerleben träumen. Doch wenn man erst hinter die Kulissen blickt, weicht das Romantische der Nüchternheit des täglichen Lebens. Auch darf man nicht übersehen, dass die Reise in den letzten Jahren immer schwieriger für die Schausteller geworden ist. So sind die Transportkosten enorm angestiegen und viele Veranstalter wissen gar nicht was sie mit ihren oftmals übertrieben hohen Platzgeldforderungen anrichten. Hinzu kommen der permanente Arbeitskräftemangel auf der Reise und die vielen bürokratischen und gesetzlichen Fallstricke für die Schausteller. Wenn sich da die Politiker nicht bald eines besseren besinnen ...

Das klingt ein Stück weit ernüchternd.
Ja, viele Leute meinen, ich sei ein Kirmesjeck. Ich bin ja auch während meiner Jugendzeit mit Begeisterung in jedes tolle Karussell eingestiegen. Heute gelingt mir das ausgelassene Kirmesfeiern vielleicht noch am Sim-Jü-Samstagabend, wenn meine Frau und ich mit der Clique über Sim-Jü gehen und alles Mögliche (außer den ganz wilden Sachen!) ausprobieren. Ich bin dann sehr entspannt, weil alles läuft und die für mich oftmals hektischen Wochen vor Sim-Jü weichen einer Genugtuung und Zufriedenheit. Insbesondere dann, wenn ich für die Schausteller und Sim-Jü Sinnvolles tun konnte.

Was an Sim-Jü ist denn heute noch so wie in Ihrer Kindheit?
Vieles, Gott sei Dank. In Werne war man in Sachen Sim-Jü immer fortschrittlich. Insbesondere in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden sehr viele neue Fahrgeschäfte präsentiert, und das hat sich bie heute nicht geändert. Darüber hinaus ist Werne, und das ist der Vorteil, den Sim-Jü-Traditionen treu geblieben. Andere Volksfeste haben die Stellschrauben längst überdreht und sich unter Umständen zu reinen Ballermann-Partys, die keinen Volksfest-Charakter mehr haben, gewandelt. Auch hat man hier und da willkürlich die Veranstaltungstage verändert, was oftmals dazu geführt hat, dass selbst traditionsreiche Volksfeste bedeutungslos geworden sind.


Sim-Jü

Kindheitserinnerung

„In solch einer imposanten amerikanischen Skooter Chaise – so nennen die Schausteller diese Autos – übte ich mich ab Mitte der 50er Jahre als Selbstfahrer in Petters Auto-Skooter“, erzählt Rainer Schulz. „Prompt knallte ich bei einem Zusammenstoß mit dem Oberkiefer auf eine der beiden Chromstangen und war erst mal bedient.“

 

Wird bei Sim-Jü über Veränderungen nachgedacht?
Einige Heißsporne sähen es gerne, wenn Sim-Jü bereits am Freitag beginnen würde. Dafür würden sie den Kirmesdienstag mit dem Krammarkt, der seit den 1920er Jahren der Traditionstag ist, glatt opfern. Ich werde mich, so lange ich kann, dafür einsetzen, dass das nicht passiert. Auch alles so zu belassen und den Freitag zusätzlich hinzuzunehmen, halte ich für kontraproduktiv. Das Besucherpotential ist erschöpft und würde sich dann auf die fünf Veranstaltungstage neu verteilen. Für die Schausteller brächte das zudem erhebliche Mehrkosten. Vier Tage Sim-Jü sind optimal für Werne. Im Übrigen haben die Werner Verantwortlichen in Sachen Sim-Jü (mit wenigen Jahren der Ausnahme) stets positiv konservativ gedacht. Konservativ im Sinne von konservierend. Das hat sich für Sim-Jü bis heute ausgezahlt. Nach wie vor gehört unsere großartige Kirmes für die Schausteller zu den begehrten Volksfesten, wir bekommen Anfragen auf Zulassen aus ganz Deutschland. Sim-Jü ist immerhin der älteste noch bestehende Freimarkt des Münsterlandes. Das ist schon ein Pfund!

Was macht Sim-Jü so erfolgreich?

Um nur ein Beispiel zu nennen: In den Fünfzigerjahren hatten wir in Werne mehr als 90 Kneipen, heute sind nur einige wenige übriggeblieben. Dem hat man auf Sim-Jü entgegengewirkt, indem man nach und nach einige schicke Ausschankbetriebe in die Kirmesreihen eingestreut hat, die das Publikum zum längeren Verweilen animieren. Hätten wir diese Spezialbetriebe heute nicht, wäre der insgesamt geschäftliche Erfolg von Sim-Jü bei weitem nicht so gut wie momentan. Auch die Veranstaltungsfläche inmitten unserer Stadt trägt zum großen Erfolg von Sim-Jü bei. Atmosphäre und Flair unserer Kirmes sind einzigartig. Und das Gebotene kann sich immer sehen lassen, hält sogar den Vergleich mit größeren Veranstaltungen aus.

Jahr für Jahr ergibt sich ein Phänomen: Zu Sim-Jü kennt Werne nur ein Thema.
Gerade neulich habe ich etwas aufgeschrieben: Wenn Sim-Jü ist, steht Werne kopf. Und umgekehrt: Werne steht kopf, wenn Sim-Jü ist. Die Kirmes ist eine Stadt in der Stadt.

Durch Sim-Jü entstehen ungewohnte Wege: Wo sonst Autos fahren, ist man plötzlich als Fußgänger unterwegs ...
... und nimmt auch schon mal Abkürzungen durch Gassen, die man sonst nicht nutzt. Das gehört zur Faszination, die von einer gemütlichen Innenstadt-Kirmes ausgeht.

Haben Sie Sim-Jü jemals verpasst?
Nein, noch nie. Ich war jedes Lebensjahr auf Sim-Jü, mit diesem Jahr wahrscheinlich 76 Mal. Denn als im Juli 1944 Geborener haben mich meine Eltern sicher schon im Kinderwagen über die Kirmes bzw. an den wenigen Buden vorbei, die damals aufgebaut waren, geschoben. Während des gesamten Zweiten Weltkriegs gab es relativ wenig zu feiern, zu Sim-Jü traf man sich aber stets in den alten Werner Gaststätten und einige Schausteller waren auch immer da. Freilich: Zuckerwaren und irgendwann auch die Bratwürste waren damals Mangelware.

Sim-Jü gehört zum Kulturgut der Stadt. Wie erklären Sie sich die uneingeschränkte Begeisterung?
Sim-Jü kann man mit einem Gen vergleichen. Wer in Werne geboren wurde – und das gilt auch für alle, die jung zugezogen sind – hat so etwas wie dieses Kirmes-Gen in sich. Natürlich gibt es auch heute noch Mucker (Miesepeter), die einem Volksfest wie Sim-Jü nichts abgewinnen können. Die befinden sich aber in deutlicher Minderheit. Die meisten Werner freuen sich auf die vier Kirmestage, zumal Sim-Jü zur DNA von Werne gehört.

Was beschäftigt Sie heute, nachdem Sie sich Sim-Jü und den Schaustellern schon so lange widmen?

Es ist enorm wichtig, ein aus so alten Traditionen entstandenes Volksfest zu bewahren. Dabei ist ein Aspekt entscheidend: Die Schausteller als Menschen sind in Werne sehr beliebt und infolgedessen willkommen. Erst, wenn wie bei uns persönliche Bindungen entstehen, funktioniert eine Kirmes optimal. Sie ist dann nicht nur Kirmes, sondern Volksfest. Darin liegt der Unterschied. Schausteller sind übrigens im Wesentlichen Pragmatiker und eigentlich nie missmutig. Bei Regen sagen sie: „So ist es eben, wir sind nun mal vom Wetter abhängig.“ Wenn es in meiner Kindheit beispielsweise am letzten Sim-Jü regnete, war ich zutiefst niedergeschlagen, weil ich dann glaubte: „Die Schausteller kommen bestimmt nie wieder in unsere Stadt!“


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