10. November 2023
Rede des Bürgermeisters zum Gedenken an die Pogromnacht 1938
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
85 Jahre sind vergangen seit dem Ereignis, welches allgemein unter der Bezeichnung „Reichspogromnacht“ bekannt ist.
Jahr für Jahr haben wir uns hier zusammengefunden, um an das zu erinnern, was damals vorgefallen ist. Es war, wie der Historiker Dan Diner es bezeichnete, „die Katastrophe vor der Katastrophe“.
Nachdem im September 1935 die sog. Nürnberger Rassengesetze erlassen worden waren, nahmen die Unterdrückung und systematische Entrechtung der deutschen Juden zu. Im Sommer 1938 lebten noch 540.000 Juden in Deutschland und im kurz zuvor angeschlossenen Österreich.
Auf der Konferenz von Evian im Juli 1938 hatten 32 Staaten über Aufnahmemöglichkeiten für aus Deutschland und Österreich geflüchtete Juden diskutiert, aber nur die Dominikanische Republik war zur Aufnahme bereit.
Am 9. November desselben Jahres erreichten dann die gegen Juden gerichteten Maßnahmen mit mehr als 1300 Toten, mindestens 1400 zerstörten Synagogen und Gebetshäuser sowie unzähligen geplünderten Wohnungen und Geschäfte einen Höhepunkt. Mehr als 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, wo viele von ihnen starben.
Nach den Pogromen beschleunigte sich die Judenverfolgung bis hin zum Holocaust.
Über all das haben uns immer wieder, auch im Rahmen unserer früheren Veranstaltungen, sogenannte Zeitzeugen berichtet. Ihre Zahl wird immer kleiner, doch einige wenige Personen, welche die Pogromnacht und die anschließenden Ereignisse bis zum Holocaust miterlebt haben, gibt es noch.
Eine von Ihnen ist die soeben von Lara Overmann zitierte Margot Friedländer. Ein weiterer Zeitzeuge kam erst vor wenigen Tagen in einer Titelgeschichte des „Spiegel“ mit Blick auf die derzeitige Situation der Juden in Israel und Deutschland zu Wort. Die Rede ist von Ivar Buterfas. Inzwischen 90 Jahre alt, hält er seit 30 Jahren Vorträge, um über die damaligen Ereignisse zu berichten. Mehr als 1500 mal hat er seine Geschichte in Universitäten, Rathäusern, Theatern und Schulen erzählt.
Eine dieser Schulen war das Anne-Frank-Gymnasium in Werne.
Und ich erinnere mich noch gut an die Veranstaltung, bei der ich kurz nach meiner Amtseinführung gemeinsam mit dem damaligen BM Meinhard Wichmann und Schulleiter Lambert Stecher sowie mit etwa 200 Oberstufenschülerinnen- und Schülern beider Gymnasien den Erzählungen von Ivar Buterfas zuhören durfte.
„Wehret den Anfängen“ hieß es da und die Presseberichterstattung am folgenden Tag vermerkte zutreffend, dass die Jugendlichen „gebannt und zum Teil mit Tränen in den Augen“ dem Bericht gefolgt seien. Auch ich war äußerst beeindruckt.
Leider werden bald keine Zeitzeugen mehr unter uns sein. Und so werden diejenigen Menschen fehlen, die den abstrakten Daten und Zahlen der damaligen Ereignisse ein Gesicht gegeben und die durch die Schilderung ihres ganz konkreten Schicksals die Menschen berührt haben.
Im Gedächtnis der jüdischen Bevölkerung – dessen können wir sicher sein - werden die schrecklichen Ereignisse des 9. Novembers 1938 und der spätere Holocaust über viele Generationen hinaus präsent bleiben. Insoweit werden Traumata gewissermaßen vererbt.
Bei der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft in unserem Land jedoch bröckelt der bisherige Konsens, die Erinnerung an die Verbrechen, die den Juden angetan wurden, aufrecht zu erhalten. Viele Menschen sind der Konfrontation mit der Schande zunehmend überdrüssig, empfinden jene Geschehnisse als in historisch weite Ferne gerückt und wollen einen „Schlussstrich“ ziehen.
Und immer mehr Menschen leben unter uns, die in Bezug auf ihre Familiengeschichte nichts mit dem Holocaust zu tun haben.
Warum also müssen wir noch der Pogrome gegen die Juden und deren Ausrottung gedenken?
Weil der Ausspruch „Nie wieder“ nach wie vor Gültigkeit hat. Weil sich Verbrechen wie damals niemals wiederholen dürfen und weil dies anders als manch einer irrtümlich annehmen mag eben nicht ohne unser Zutun quasi automatisch gewährleistet ist und es deshalb notwendig ist, das Wissen darüber zu bewahren und weiterzugeben.
Dies bedeutet aber, dass wir unsere Gedenkkultur insbesondere mit Blick auf junge Menschen weiterentwickeln, ja verändern müssen.
Heute kennen Jugendliche und die meisten Erwachsenen, jedenfalls diejenigen mit deutscher Herkunft, nur das Leben in einem demokratischen Rechtsstaat und in Sicherheit.
Junge Menschen haben an dem Thema der Judenverfolgung- und Ermordung häufig nur ein mittelmäßig ausgeprägtes Interesse. Selbst jüngere Ereignisse wie der Mauerfall und die damit verbundene Deutsche Einheit liegen für sie gefühlt in weiter Vergangenheit.
Hinzu kommt, dass Jugendliche heute anders geprägt sind als noch vor 20 oder 30 Jahren, u.a. durch den erheblichen Gebrauch von Smartphones und Tablets und eine kaum gesteuerte Nutzung der sog. sozialen Netzwerke.
Wenn ich bisher von jungen Menschen mit deutscher Herkunft gesprochen habe, so müssen wir uns auch vor Augen führen, dass viele Menschen in Migrantenfamilien keinen familiären Bezugspunkt zum Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung haben können, sondern mit anderen Ereignissen ihrer Geschichte aufgewachsen sind.
Das heißt, dass eine moderne Gedenkkultur der aktuellen Verfasstheit unserer Gesellschaft nicht ausweichen kann. Dazu zählt neben der größer werdenden Zahl der Migranten auch das Phänomen einer erstarkten politischen Gruppierung am rechten politischen Rand, aus deren Reihen der Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ bezeichnet worden ist und die unter Erinnerungskultur gewiss etwas anderes versteht als die etablierten demokratischen Parteien.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die sinkende Zahl der Zeitzeugen, die veränderten Verhaltensweisen der jungen Generation, die Erfahrungen und Einstellungen von Migranten und das Erstarken der politischen Rechten als Veränderungen wahrgenommen werden müssen, die es 85 Jahre nach der Reichspogromnacht notwendig machen, in der Erinnerungskultur neue Wege zu gehen.
Helfen kann dabei vielleicht das Leitmotiv der Gedenkstätte Buchenwald, welches heißt:
„Gedenken braucht Wissen und gegenwartsrelevante Reflexion“.
Schulen, aber auch anderen Bildungseinrichtungen kommt dabei angesichts des gewachsenen zeitlichen Abstands und der veränderten Gesellschaftsstrukturen eine immens wichtige Aufgabe zu, nämlich die Erklärung der NS-Ideologie, die Darstellung der Strukturen des NS-Regimes, die Funktions- weise der Ausgrenzung von Juden und anderen Minderheiten, die Definition von Antisemitismus.
Bei der Wissensvermittlung ist aber auch wichtig, das Judentum in Deutschland nicht nur auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu fokussieren, Juden nicht nur als Opfer darzustellen. Denn durch den Holocaust wurde eine jahrhundertealte Kultur jäh abgebrochen. Die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Kultur und deren Einfluss auf die abendländische, speziell auch deutsche Kultur muss den Schülerinnen und Schülern als etwas sehr Positives vermittelt werden.
Es waren nicht zuletzt Juden, die die Gesellschaft in Deutschland während der Jahrhunderte vor dem Naziregime in besonderer Weise geprägt haben.
Wissenschaftler wie Albert Einstein, Komponisten wie Felix Mendelsohn-Bartholdy, Schriftsteller wie Heinrich Heine, Maler wie Max Liebermann oder Politiker wie Walther Rathenau. Die Liste ließe sich um viele andere Namen erweitern.
Juden, die von den Nazis als minderwertige Rasse diskriminiert, verfolgt und getötet wurden, haben für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft und mitunter ihr Leben gelassen. Und sie haben in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte eine bedeutsame Rolle gespielt und dies muss vermittelt werden, da es für ein angemessenes Gedenken unverzichtbar ist.
Meine Damen und Herren,
Im Zuge der weiten Aufgabe, in der Erinnerungskultur neue Wege zu gehen, will ich aber auch die positiven Beispiele benennen, die es hier und andernorts gibt.
Da sind etwa regelmäßige Fahrten der Schulen zu den NS-Gedenkstätten wie dem Konzentrationslagern Buchenwald und Bergen-Belsen. Da ist die We-remember-AG des Anne-Frank-Gymnasiums Werne, mit der die Schülerinnen und Schüler einen Beitrag für die lokale Geschichts- und Erinnerungskultur leisten wollen. Dabei stehen die Pflege und Gestaltung der Gedenkstätte Zwangsarbeit am Südring im Mittelpunkt ihres Wirkens. Aber auch mit vielen weiteren Beiträgen wie etwa eine Anne-Frank-Ausstellung oder die Mitwirkung bei Gedenkveranstaltungen will die AG die Erinnerung wachhalten.
Gleiche Intention verfolgt die non-profit Organisation Zweitzeugen e.V., die vor allem junge Menschen durch das Weitergeben der Geschichten von Überlebenden des Holocaust ermutigt und befähigt selbst zu sog. Zweitzeuginnen und -zeugen zu werden und sich gegen Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen im Heute einzusetzen.
Die soeben von Lara Overmann verlesenen Textauszüge stammen aus einer Zweitzeugenbroschüre des eben genannten Vereins.
Gute Beispiele, wie ich finde, neue Wege in der Erinnerungskultur aufzuzeigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wenn wir am heutigen 9. November 2023 der Geschehnisse der sog. Reichspogromnacht erinnern und uns gegen jedwede Art des Antisemitismus, der Judenfeindlichkeit und Judenverfolgung einsetzen, dann lässt sich in diesen Tagen ein Thema nicht ausklammern, welches uns tief bewegt und erschüttert: der Hamas-Überfall auf Israel, die andauernden Auseinandersetzungen im Nahen Osten und die Demonstrationen in aller Welt, insbesondere auch in Deutschland.
Am 7. Oktober startete die Terrororganisation Hamas einen Angriff auf Israel, in dessen Folge über 1400 Jüdinnen und Juden ermordet wurden.
Dies ist der größte Massenmord an Juden nach Ende des zweiten Weltkrieges.
Die Mitglieder der terroristischen Organisation köpften Kleinkinder, verschleppten Mütter, Kinder, Greise und zerstörten Häuser, über 240 Menschen wurden gekidnappt. Alle zur Empathie fähigen Menschen waren entsetzt.
Und dann mussten wir erleben, wie tausende Menschen in aller Welt auf die Straße gingen und gegen Israel und gegen Juden protestierten. Für uns in Deutschland war und ist dies besonders erschütternd angesichts der Ereignisse, deren wir heute gedenken. Insbesondere in Berlin, aber auch in zahlreichen anderen Städten wurde bei genehmigten und ungenehmigten Demonstrationen die Gewalt der Hamas gerechtfertigt, ja verherrlicht. Gleiches geschah in sozialen Medien wie etwa bei Tik-Tok.
Doch damit nicht genug. Es gab Anschläge gegen Synagogen, Häuser von Israelis wurden mit Judensternen beschmiert. Makkabi-Sportvereine konnten keinen sicheren Spielbetrieb garantieren und jüdische Eltern nahmen ihre Kinder aus den Schulen. Und die von der Rechtsanwältin Seyran Ates in Berlin gegründete Moschee als Ort zur Umsetzung eines Reform-Islams musste aufgrund von Terrordrohungen geschlossen werden.
Wir alle mussten erkennen, dass Antisemitismus keine exklusive Geisteshaltung von Rechtsradikalen ist. Ebenso wie im rechtsextremen Bereich ist Antisemitismus – so heißt es in einem kürzlich veröffentlichen Artikel auf Tagesschau.de – in bestimmten migrantischen Kreisen weit verbreitet.
Wurde die sog. Willkommenskultur von 2015 von den meisten Deutschen unterstützt und parteiübergreifend von Politikern wie von Kirchen und den meisten Medien als moralisch richtig bewertet, so werden jetzt die Stimmen lauter, welche in dieser Zuwanderung auch Risiken sahen und zunehmend sehen. Altbundespräsident Joachim Gauck hatte schon früh vor „importiertem“ Antisemitismus gewarnt. Und der deutsch-israelische Psychologe und Autor Ahmad Mansour erläutert die Ursachen wie folgt:
Zitat: „Nahezu alle Migranten, die aus muslimisch geprägten Milieus stammen, sind -wie ich als israelischer Araber und Palästinenser- in einer Atmosphäre des alltäglichen Antisemitismus und der Feindseligkeit gegenüber Israel groß geworden. Antisemitische Stereotype, judenfeindliche Sprüche sind gang und gäbe in vielen muslimischen Familien. Eltern und Kinder haben all das im mentalen Gepäck, wenn sie hier ankommen“. Zitatende.
Wenn Islam-Experten wie der lange an der Uni Göttingen lehrende liberale Prof. Bassam Tibi, der Begründer des sog. Euro-Islam, erzählten, dass Judenhass die „Hintergrundmusik“ ihrer arabischen Kindheit gewesen sei, so ist dies offensichtlich kaum wahrgenommen worden.
Es wäre naiv zu glauben, dass Einwanderer aus muslimischen Ländern den dort zum Teil tiefsitzenden Hass auf Juden und den Staat Israel beim Grenzübertritt abschwören, Brücken in ihre Heimatkultur abbrechen und ihren Kindern das Gegenteil dessen lehren, was ihnen selbst beigebracht wurde.
Hunderttausende Muslime in Deutschland leben seit Jahren friedlich unter uns. Doch die Gefahr des durch Einwanderung importierten Antisemitismus dürfen wir nicht klein reden.
Auch Vizekanzler Robert Habeck spricht den islamischen Antisemitismus in seiner viel beachteten Rede von letzter Woche an uns sagt: Zitat: „Es braucht jetzt Klarheit und kein Verwischen. Und zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren, in keiner“ Zitatende.
Ich finde, Habeck hat recht. Es ist an der Zeit, klare Positionen zu beziehen. Demokraten müssen den Wertedialog stärken, politische Bildung fördern und viel effektiver in den sozialen Medien präsent sein. Wir müssen in den Schulen nicht nur den historischen und deutschen rechtsradikalen Antisemitismus behandeln, sondern jede Art jüdischer Diskriminierung, auch wenn dies sicherlich in Klassen mit großen muslimischen Mehrheiten schwierig ist.
Es ist jedoch ebenso notwendig wie das Verbot von Demonstrationen, bei denen Judenhass propagiert oder Juden bedroht werden. Gewaltorientierte antisemitische Organisationen gehören verboten und Verbandsvertretern muss klar gemacht werden, dass nur bei eindeutig demokratischen Positionen eine Zusammenarbeit möglich ist.
Das vor einer Woche von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser erlassene Verbot für Hamas und Samidoun in Deutschland kann dabei nur der Anfang sein.
Meine Damen und Herren,
Die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit hat gezeigt, dass eine unkontrollierte, ich betone unkontrollierte Migration unsere Gesellschaft entzweit und Wählerinnen und Wähler in die Arme von Rattenfängern treibt.
Wir müssen am heutigen Tag an die Ereignisse des 9. November 1938 erinnern, weil sich solches nicht wiederholen darf. Wir müssen aber auch die aktuellen Gefahren erkennen und bekämpfen, die sich aus einem Antisemitismus mit rassistischen, antiisraelischen und antiimperialen Wurzeln speisen. Antisemitische Krawalle auf deutschen Straßen sind nicht zu dulden. Jüdische Kinder dürfen keine Angst mehr haben, zur Schule zu gehen. Und alle, die in diesem Land leben, gleich welcher Nationalität oder Religion, haben die in unserem Grundgesetz verankerte Werteordnung zu beherzigen.
Dafür müssen wir eintreten – nicht nur am heutigen Tag –.
Wir, das ist die Politik, wir das ist die Gesellschaft, wir das ist ein jeder von uns.
Um es mit den Worten von Margot Friedländer, die am 27. Januar 1945 aus dem KZ Auschwitz befreit wurde, zu sagen: „Wir müssen wachsam sein und nicht wie damals wegschauen. Hass, Rassismus, Antisemitismus, dürfen nicht das letzte Wort der Geschichte sein“. So sprach sie am 27. Januar letzten Jahres vor dem Europäischen Parlament und bereits 4 Jahre zuvor fasste sie Ihren Auftrag mit den Worten zusammen:
„Ich bin zurückgekommen, um mit Euch zu sprechen, um Euch die Hand zu reichen, Euch zu bitten, dass Ihr die Zeitzeugen sein sollt, die wir nicht mehr lange sein können. Es ist für Euch, für Eure Zukunft. Das darf nie wieder geschehen. Und ihr müsst dafür sorgen, dass es nie wieder geschieht“.